Friedhof Billerbeck
Die fehlenden Gräber auf dem Jüdischen Friedhof in Billerbeck: Die Familiengeschichte Albersheim-Eichenwald und das Shoah-Gedenken
Eingangstor zum
Jüdischen Friedhof in
Billerbeck
Familiengeschichte Albersheim-Eichenwald
Vier Generationen
Ruth Albersheim heiratete 1935 Otto Eichenwald (*1906) aus Horstmar. Das Ehepaar bekam zwei Kinder: Rolf Dieter (*1936) und Eva (*1937). Die zunehmende Entrechtung der Juden durch das nationalsozialistische Regime und die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben zwangen die Familie Albersheim-Eichenwald, Ende September 1938 das Geschäft aufzugeben. Die Familie verzog nach Krefeld.
Familie Albersheim-Eichenwald in Krefeld, Jahreswende 1940/41: v.l.n.r. Rolf-Dieter Eichenwald, die Großeltern mütterlicherseits Josef und Selma Albersheim, die Eltern Ruth und Otto Eichenwald mit Eva Eichenwald sowie Adele Albersheim, die Schwester von Josef Albersheim
Verschleppung und Ermordnung
Die Gründergeneration der Familie Albersheim-Eichenwald, Heimann und Sofie Albersheim, ist in Billerbeck verstorben und auf dem Jüdischen Friedhof in der Berkelaue 1905 bzw. 1912 beerdigt worden. Kein Mitglied der folgenden drei Generationen hat in der Heimatstadt sein Grab gefunden. Wo sind diese Menschen verblieben, wo sind sie beerdigt worden? Die fehlenden Gräber der Familie spiegeln die Shoah wider: Die Leerstellen auf dem Friedhof verweisen indirekt auf die Ermordung dieser jüdischen Deutschen fern der Heimat.
Von den 1.007 Menschen des Düsseldorfer Transports überlebten nur 98. Die Mitglieder der Familie Albersheim-Eichenwald zählten nicht zu den Überlebenden. Sie haben kein individuelles Grab gefunden, sondern sind erschossen und in Massengräbern verscharrt oder in Vernichtungslagern vergast und verbrannt worden.
Josef Albersheim, der Großvater der Eichenwald-Kinder, verstarb im Januar, seine Schwester Adele im Oktober 1941 in Krefeld. Ihr Tod bewahrte sie vor der anstehenden Deportation. Am 11. Dezember 1941 wurden die Großmutter Selma Albersheim, die Eltern Ruth und Otto Eichenwald und die Kinder Rolf-Dieter und Eva von Düsseldorf aus nach Riga im besetzten Lettland in ein „Reichsjudenghetto“ verschleppt. Rolf-Dieter war fünf, Eva vier Jahre alt. Drei Tage nach der Ankunft wurde sie fünf Jahre alt.
Shoah-Gedenken
Privat
Nach 1945 ist ein jüdischer Friedhof nicht mehr nur ein Erinnerungsort der Familien. Die Begräbnisstätte wird nun auch zu einem Gedenkort an die Opfer der Shoah, die im Verlauf des Verfolgungs- und Vernichtungsgeschehens nicht in der Heimat verstorben sind und infolgedessen hier nicht beerdigt werden konnten. Die Erinnerung der Überlebenden und Nachgeborenen an die ermordeten Familienmitglieder hat sich in das Erscheinungsbild des Friedhofs eingeschrieben.
Die letzte Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof in Billerbeck im Nationalsozialismus fand im Dezember 1939 statt. Am 11. Dezember 1939 war der Viehhändler David Davids (*1867) verstorben. Nach 1945 ließ der Sohn Julius Davids (1908–1966), der vor dem NS-Regime nach Südamerika fliehen konnte, einen Grabstein errichten, der die Lebensdaten des Vaters zeigt. Zusätzlich finden sich die Namen der Mutter und des Bruders mit den Geburtsdaten sowie der Hinweis „Verblieben im Konzentrationslager“. Der Grabstein für den Vater ist zugleich ein Grabsteinersatz für die Mutter und den Bruder.
Der vage Hinweis auf „Konzentrationslager“ als Chiffre des „Verbleibs“ spiegelt das damalige diffuse Wissen über die Schicksale der Familienmitglieder wider. Die Mutter Bertha Davids wurde Ende Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt verschleppt, wo sie im Januar 1943 infolge der unmenschlichen Lebensumstände verstarb. Der Bruder Albert
Davids wurde im Juli 1940 zur Zwangsarbeit nach Bielefeld verbracht und am 13. Dezember 1941 von dort in das Ghetto in Riga deportiert, wo sich seine Spur verliert.
Das Denkmal vor dem Friedhof ist ausgerichtet auf die Grabsteine ihrer Urgroßeltern mütterlicherseits, Heimann und Sofie Albersheim, die im hinteren Bereich des Friedhofs stehen. Die Sichtachse verbindet die Generationen, wobei die Gräber von drei Generationen, die nicht in Billerbeck beerdigt werden konnten, fehlen. Sie werden mit den Denkmalsteinen symbolisch repräsentiert.
Der Grabstein für David Davids (+1939) spiegelt die Sepulkralkultur Mitte des 20. Jahrhunderts wider: ein rechteckiger Granitstein mit polierter Vorderseite, ausschließlich in deutscher Sprache, einziges jüdisches Symbol der Davidstern. An der Grabsteingestaltung lässt sich eine weitgehende kulturelle und soziale Integration in die bürgerliche Gesellschaft ablesen.
Öffentlich
Ein Gedenken an die Opfer der Shoah im öffentlichen Raum manifestierte sich in Billerbeck vergleichsweise spät. Dominierte bis weit in die 1980er Jahre das traditionelle „Kriegsgefallenen“-Gedenken, entfaltete sich erst seit der Jahrtausendwende ein Gedenken an die „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Aus dem „Kriegerehrenmal“ sollte ein „Mahnmal“ werden, das sowohl an die zivilen und militärischen Kriegstoten wie auch an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erinnert. Eine gläserne Tafel (2002) listet alle Opfer des gewaltsamen 20. Jahrhundert namentlich auf, geordnet nach Opfergruppen. So sind nun die Namen aller Shoah-Opfer, darunter auch die der Familie Albersheim-Eichenwald, im Zentrum von Billerbeck zu lesen.
2005 erreichte eine private Initiative, dass das Umfeld des Jüdischen Friedhofs in der Berkelaue aufgewertet wurde, um den Kultur- und Geschichtsort angemessen zu würdigen. Ein künstlerisch gestaltetes Denkmal vor dem Friedhof erinnert an das Schicksal der Eichenwald-Kinder und stellt zugleich die Verbindung zur Familiengeschichte her. Die Umrisse der beiden Steinquader erinnern an die Form der Gräber auf dem Friedhof, die aus den 1920/1930er Jahren stammen. Die Umrisse der in der Mitte der Quader vorgenommenen Entkernungen nehmen die Formen der älteren Grabsteine auf, zu erkennen an den Rundbögen.
Idee u. Text: Matthias M. Ester M.A., Münster
Grafik Friedhofstor: Prof. Jörg Heydemann, Billerbeck
Fotos 1–14 u. Quellen: Veronika Meyer-Ravenstein, Zersplitterte Sterne, 2. Aufl., Dülmen 2020; Stadtarchiv Bielefeld, Kriegschronik 1941; Andreas Wessendorf, AFO; Matthias M. Ester M.A.; https://www.statistik-des-holocaust.de, https://deportation.yadvashem.org/
Gestaltung u. Grafik Lageplan: Kerstin Schneider, AFO