Fluchtpunkt Landwirtschaft: Auf Hachschara in Westfalen
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Einführung
Hachschara – dieses hebräische Wort bedeutet so viel wie „Tauglichmachung, Vorbereitung“. Seit den 1920er Jahren stand es für ein Programm der zionistischen Jugendbewegung: Auf Bauernhöfen und Gütern in Deutschland sollten jüdische Jugendliche all das lernen, was sie benötigten, um einmal in Palästina leben, arbeiten und das Land besiedeln zu können.
Was als freiwillige Initiative begonnen hatte, wandelte sich unter dem Druck zunehmender NS-Repressalien nach 1933: Nun waren die Ausbildungsstätten für viele deutsch-jüdische Jugendliche eine der wenigen Möglichkeiten, der NS-Verfolgung und dem staatlichen Mordprogramm des Holocaust zu entkommen. 1935 gab es 31 Hachschara-Lehrbetriebe für Landwirtschaft und Gärtnerei in Deutschland. Zwischen 1933 und 1938 konnten über diese Einrichtungen mehr als 18.000 jüdische Jugendliche aus Deutschland emigrieren, die meisten von ihnen nach Palästina. Das war etwa jeder vierte aus der Generation der 6- bis 25-jährigen.
Ausbildung: Ziele und Realität
Die „Erziehung der jüdischen Jugend in Deutschland für den Aufbau Erez Israels“ zählte der Pfadfinderbund Makkabi Hazair zu seinen Hauptaufgaben. „Er vertraut darauf, dass idealistische Einsatzbereitschaft die Wiedergeburt eines einheitlichen jüdischen Volkes herbeiführen kann“, heißt es in einer Programmschrift des zionistisch orientierten Jugendbundes.
In seinen Hachschara-Zentren strebte Makkabi Hazair „eine gründliche und gediegene Berufsausbildung“ sowie ein intensives sportliches Training an.
Der Hof Stern bei Westerkappeln
Auch im Münsterland gab es zwischen 1934 und 1938 ein Hachschara-Lehrgut. Es befand sich auf einem Bauernhof in der Bauerschaft Westerbeck bei Westerkappeln und war das einzige seiner Art in der einstigen preußischen Provinz Westfalen. Die Jugendlichen selbst nannten den Hof in den 1930er Jahren „Kibbuz Westerbeck“, obwohl es im strengen Sinne kein gemeinschaftlich bewirtschafteter Hof war, sondern eine Ausbildungsstätte und ein Zufluchtsort.
Seit Dezember 1932 befand sich der Hof im Eigentum des Osnabrücker Pferdehändlers Rudolf Stern und seines Bruders, des ebenfalls in Osnabrück tätigen Kaufmanns Leo Stern. Die beiden Brüder verpachteten den Hof an den jüdischen Pfadfinderbund „Makkabi Hazair“, der dort eine Ausbildungsstätte für jüdische Schulabgänger im Alter von etwa 15 bis 17 Jahren aufbaute. Verwaltet wurde der Hof zuletzt von dem aus Syke bei Bremen stammenden Ehepaar Dora und Siegfried Löwenstein, die mit ihrer Tochter Grete auf dem Hof lebten.
Im Zeitraum von Januar 1934 bis November 1938 lebten auf dem „Hof Stern“, wie er auch genannt wurde, insgesamt 104 Jugendliche und junge Erwachsene – 32 waren weiblich, 72 männlich. Die jungen Leute kamen aus Metropolen wie Berlin oder Leipzig, aus Städten wie Bielefeld, Dortmund oder Essen, aber auch aus Dörfern wie Madfeld bei Brilon, Herzlake im Emsland oder Westerstede im Ammerland.
„Erziehung der jüdischen Jugend in Deutschland für den Aufbau Erez Israels“
Beobachtet, verfolgt, geflohen, ermordet
Das Geschehen auf dem Hof wurde nicht nur von den Nachbarn und von der Einwohnerschaft Westerkappelns, sondern sehr genau auch von den Meldebehörden, den örtlichen und regionalen NS-Funktionären und von der Polizei beobachtet.
Am 1. August 1935 teilte der stellvertretende Landrat der Staatspolizeileitstelle in Münster seine Informationen über das „jüdische Umschulungslager“ mit und merkte unter anderem an: „Ich stelle zur Zeit noch Ermittelungen – die allerdings sehr schwer durchzuführen sind – an, ob tatsächlich die Umgeschulten auswandern oder ob sie in Deutschland verbleiben.“
Am 10. August 1935 ließ die Münsteraner Staatspolizeileitstelle den Landrat des Kreises Tecklenburg wissen, man habe „beim Geheimen Staatspolizeiamt in Berlin die Auflösung des jüdischen Umschulungslagers in Westercappeln-Westerbeck im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung angeregt“.
Die Versuche von NS-Verwaltung und Gestapo, das Hachschara-Lehrgut aufzulösen, liefen zu diesem Zeitpunkt aber aus bislang nicht bekannten Gründen ins Leere. Der Hof Stern und seine Bewohner konnten bis 1938 die Arbeit der jüdische Selbsthilfe fortsetzen.
Das Ende des Lehrgutes
„Hof Stern“ 1938/39
In der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 überfielen Mitglieder der SA den Hof. Das Verwalterehepaar Löwenstein wurde brutal misshandelt, das Mobiliar wurde zerstört, Fensterscheiben wurden zerschlagen. Vier junge Männer lebten zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Hof Stern. Sie wurden ebenso wie der Verwalter Siegfried Löwenstein festgenommen und in Westerkappeln inhaftiert. Während Löwenstein nach einer Woche auf den Hof zurückkehren konnte, wurden die vier anschließend für einige Wochen ins KZ Buchenwald verschleppt.
Einem der vier gelang offenbar kurz darauf die Flucht ins rettende Ausland. Die anderen drei wurden in den Kriegsjahren deportiert und ermordet: im KZ Buchenwald, im Ghetto in Riga und im KZ Stutthof.
Das Verwalterehepaar Siegfried und Grete Löwenstein, 50 und 49 Jahre alt, wurde 1941 nach Weißrussland deportiert. Die beiden starben – vermutlich im Juli 1942 – im Ghetto von Minsk.
Was ist aus den rund hundert Jugendlichen geworden?
Für jeden Einzelnen ist das bis heute nicht mit genauer Sicherheit zu ermitteln. Auf zum Teil abenteuerlichen Wegen gelangten sie in die Schweiz, nach Großbritannien, in die USA oder nach Palästina.
Mindestens zehn entkamen nicht. Ihre Namen finden sich im Verzeichnis der Shoa-Opfer in Yad Vashem und im Gedenkbuch des Bundesarchives, das an sämtliche Deutsche jüdischen Glaubens erinnert, die zwischen 1939 und 1945 in der Shoa ermordet wurden.
Ein vorläufiges Fazit
Idee u. Text: Gisbert Strotdrees
Fotos u. Quellen: Bild 1 und 2: Gisbert Strotdrees;
Bild 3, 5–7: Gemeindearchiv Westerkappeln;
Bild 4: NRW-Landesarchiv, Abt. Westfalen, Münster
Quellen und Literatur:
– Gemeindearchiv Westerkappeln
– NRW-Landesarchiv Münster, Abt. Westfalen, Münster
– Deutscher Makkabikreis e.V.: Rechenschaftsbericht 1933 – 1935. Berlin 193, S. 10-15. – (Freundlicher Hinweis auf dieses Quelle von Henry Wahlig, Dortmund).
Gisbert Strotdrees: Eine Minderheit in der Minderheit. Jüdische Landwirte und Landiegentümer in Westfalen von den Emanzipationsgesetzen bis zur nationalsozialistishcen „ARisierung“ (1800 – 1939/42). In: Iris Nölle-Hornkamp (Hg.): Heimatkunde. Westfälische Juden und ihre Nachbarn. Ausstellungskatalog Jüdisches Museum Westfalen. Essen 2014, S. 67-79 (zum Hof Stern / Hachschara in Westerbeck und den herangezogenen Quellen siehe dort Seite 72-77).
Der Autor freut sich über Hinweise auf Erinnerungen, schriftliche Zeitzeugen-Berichte, andere Dokumente oder auch Fotografien aus jener Zeit zum Hof Stern/„Kibbuz Westerbeck“ in Westerkappeln. Wer Hinweise geben kann, kann sich unter dieser E-Mail-Adresse melden: strotdrees@uni-muenster.de