Die Marks-Haindorf-Stiftung

Am 28. November 1825 gründete der jüdische Mediziner Alexander Haindorf den „Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden und zur Begründung einer Schulanstalt, worin arme und verwaiste Kinder unterrichtet und künftige jüdische Schullehrer gebildet werden sollen“.

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Amalgamierung jüdischer und christlicher Kultur

Aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung – Ablehnung und Zurücksetzung durch die christliche Mehrheitsgesellschaft – verfolgte Haindorf das Ziel, die Isolation und das Bildungsdefizit des Judentums seiner Zeit durch Ausbildung von fähigen Lehrern zu beheben. Jüdische Kinder sollten mit dem Bildungsgut der christlichen Umwelt vertraut und die im Mittelalter verordnete Berufsbeschränkung auf den Handel durch Ausbildung zu Handwerkern überwunden werden. Im vierten Bericht des Vereins von 1830 schreibt Haindorf:

„Israeliten sollen künftig den Christen in der höheren Verstandes- und Herzenskultur nicht nachstehen. – ich rede hier nicht als Jude, der, von einem kleinlichen Nationalgefühl geblendet, seinem Volke eine politische Wichtigkeit beilegen möchte, welche es in dem Verein der europäischen Staaten nie gehabt und nie haben kann, noch als Reformator, Verwandter und Befreundeter, der die christlichen Mitbrüder zur Milde und Nachgiebigkeit stimmen wollte, sondern als Mensch, den es nicht weniger schmerzt, andere schuldlos leiden zu sehen, als Unglück selbst zu ertragen.“

Zeichnung eines großen zweistöckigen Gebäudes mit Flagge davor, hohe Fenster und große Tür. Links daneben ein Haus mit Krüppelwalmdach, rechts ebenfalls ein Gebäude, davor ein kleiner Zaun mit angrenzendem See. Unter dem Bild ein Text in Fraktur-Schrift.

Titelblatt des 33. Jahresberichts der Marks-Haindorf‘schen Stiftung von 1886 (Ausschnitt) mit dem 1884 eingeweihten Gebäude 

Haindorf, der als ein früher Vertreter eines liberalen Judentums bezeichnet werden kann, suchte nach einer gegenseitigen Annährung der jüdischen und christlichen Kultur und bezeichnete diesen Prozess als „Amalgamierung“ im Gegensatz zu von radikalen Reformern geforderten einseitigen Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft.

 

Das Seminar von Haindorf etablierte sich schnell zum Zentrum der jüdischen Lehrerbildung in Westfalen und der Rheinprovinz. Der Verein vermittelte zudem jüdischen Jungen eine Handwerksausbildung, um den stereotypen Vorurteilen gegen jüdische Händler und Kaufleute entgegen zu wirken. Dem Verein war ebenfalls eine Elementarschule angeschlossen. Hier wurden Schülerinnen und Schüler, ungeachtet der sozialen Schicht und Religion, von jüdischen und christlichen Lehrern unterrichtet. Der koeduktive Unterricht folgte damaligen als fortschrittlich gelten Methoden wie z.B. ein ganzheitlicher Ansatz. Teilweise besuchten sogar mehr christliche als jüdische Kinder die Elementarschule.

Titelblatt des 33. Jahresberichts der Marks-Haindorf‘schen Stiftung von 1886 (Ausschnitt) mit dem 1884 eingeweihten Gebäude 

Das Seminar von Haindorf etablierte sich schnell zum Zentrum der jüdischen Lehrerbildung in Westfalen und der Rheinprovinz.

Frontansicht eines rot verklinkertem, zweistöckigen Gebäudes mit schmalen Vorgarten.
Heutige Ansicht des Gebäudes, 2020

Als Alexander Haindorf 1862 starb, übernahm sein Schwiegersohn Jakob Loeb den Vorsitz des Vereins. Unter seiner Leitung wurde dieser 1866 als Marks-Haindorf’sche Stiftung in eine Körperschaft öffentlichen Rechts umgewandelt und erhielt korporative Rechte. Ab 1874 wurde für die Stiftung ein jährlicher Staatszuschuss in den Etat des preußischen Kultusministeriums aufgenommen. Zu Haindorfs 100. Geburtstag erfolgte 1884 die Grundsteinlegung eines neuen Schulgebäudes (siehe das Bild oben). Im Zuge der Reform der Lehrerbildung in Preußen musste die Marks-Haindorf-Stiftung in den 1920er Jahren die Ausbildung von jüdischen Elementarschullehrern einstellen. Die Stiftung blieb aber als jüdische Volksschule bestehen.

 

In dem Zeitraum von gut 100 Jahren wurden 430 jüdische Lehrer ausgebildet, die als Multiplikatoren die Ideale der Marks-Haindorf-Stiftung in die jüdischen Schulen Westfalens und zum Teil der Rheinprovinz weitertrugen.

Ab 1938 regelte ein Gesetz den Ausschluss jüdischer Schüler und Schülerinnen von den allgemeinen Schulen.

1939 wurde aus dem Gebäude ein sogenanntes Judenhaus. Die letzten in Münster verbliebenen Juden waren hier bis zur Deportation, die letzte am 31. Juli 1942 in das Vernichtungslager Theresienstadt, untergebracht.

Messingfarbener Stolperstein.
Stolperstein für den Rabbiner Dr. Julius Voos, der der letzte Schulleiter der Marks-Haindorf- Stiftung war.
Dunkle rechteckige Tafel mit Großbuchstaben. „Die frühere jüdische Marks-Haindorf-Stiftung diente nach der Zerstörung der Synagoge an der Klosterstraße im Jahre 1938 als provisorischer Betraum der jüdischen Gemeinde und ab 1939 als eines der 14 Häuser, in denen jüdischen Mitbürger ab 1939 bis zur ihrer Deportation in die nationalsozialistischen Vernichtungslager zwangsweise untergebracht waren.“
Gedenktafel an der Marks-Haindorf-Stiftung.
Sie wurde 1986 neben dem Eingang ange-
bracht.

Literatur-
empfehlungen

Literatur­empfehlungen
Susanne Freund: Jüdische Bildungsgeschichte zwischen Emanzipation und Ausgrenzung – das Beispiel der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (1825–1942), Münster u. Paderborn 1997.

Neuer Mittelpunkt im Wiederaufbau

In der Nachkriegszeit bis zur Einweihung der neuen Synagoge in der Klosterstr., war das Gebäude der Marks-Haindorf-Stiftung die Mittelpunkt und Keimzelle für die neue jüdische Gemeinde. Hier war ein Betraum, der für Gottesdienste und Feierlichkeiten genutzt wurde:

 

Die Eheleute Else und Siegfried Goldenberg, die maßgeblich am Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde in Münster nach dem Holocaust beteiligt waren, hatten in der Marks-Haindorf-Stiftung ihre Wohnung.

Schwarz-weiß-Fotografie mit Bänken links und rechts, über dem Mittelgang ein kleiner Kronleuchter, vorne ein Toraschrein.
Der Gebetsraum (1946–1961) in der Marks-Haindorfstiftung

Am 6. Januar 1951

feierte Paul Spiegel (u.a. Präsident des Zentralrats der Juden 2000–2006 ) seine Bar Mizwa, die erste in Westfalen nach dem Holocaust.

Im April 1953

fand hier die erste Beschneidung der neuen jüdischen Gemeinde statt: Die Brit Milah von Uriel Frankenthal.

Am 29. Dezember 1959

wurde hier die erste Hochzeit der Nachkriegszeit geschlossen: Ingrid Wilms und Samuel Weinstein.

In einem Goldrahmen gefasstes Gemälde mit Alexander Haindorf und seinen Enkelkindern Agnes und Robert Loeb, die auf dem Schoß des Großvaters sitzen. Agnes hält Blumen in der Hand.
Ölgemälde von Caspar Görke. Es zeigt Alexander Hain-
dorf und seine Enkelkinder Agnes und Robert Loeb,
1854

Prof. Dr. Alexander
Haindorf

(1784–1862)

Jüdischer Aufklärer und Reformer – Mediziner und Pädagoge – Kunstsammler und Mäzen

Alexander Haindorf – diesen Namen hatte Hirsch Alexander (hebr. Zwi Nessannel) 1808 angenommen, als ein Gesetz im Königreich Westfalen verlangte, dass Juden erb­liche Familiennamen annehmen – wurde am 2. Mai 1784 in Lenhausen, Kreis Meschede (Sauerland) geboren.

 

Nach dem Tode der Eltern wuchs Alexander in Hamm auf, wo der Vorsteher der jüdischen Gemeinde ihm die Möglichkeit zu humanistischer Schulbildung verschaffte. Die Begegnung mit seinem Onkel, dem liberalen Rabbiner von Hamm, Anschel Hertz (1730–1811), war dabei wohl genauso prägend wie die Erfahrung der Ablehnung und Zurücksetzung seiner Glaubensgenossen durch die christliche Bevölkerung. Anschel Hertz ermöglichte dem jungen Alexander Haindorf den Besuch des traditionsreichen Gymnasiums zu Hamm – hier war Haindorf der erste jüdische Schüler – und später den Besuch der Universitäten Würzburg, Jena und Heidelberg, wo Haindorf Medizin sowie Philosophie und Geschichte studierte.

 

1810 wurde Haindorf in Heidelberg zum Dr. med. promoviert. Die Dissertationsschrift wurde mit der Goldmedaille des Großherzogs Karl Friedrich von Baden ausgezeichnet. Haindorf verlobte sich mit Sophie Marks, Tochter des Elias Marks aus Hamm.

Längliches Blatt mit gedruckter Frakturschrift mit Stempel und handschriftlichen Signaturen.
Titelblatt der Habilitationsschrift „Versuch einer Pathologie und Therapie der Geistes- und Gemüthskrankheiten“ von Alexander Haindorf, die 1811 publiziert wurde

1811 erfolgte die medizinische Habilitation mit der Schrift „Versuch einer Pathologie und Therapie der Geistes- und Gemüths­krankheiten“.

Anschließend begann er als erster jüdischer Privatdozent mit Vorlesungen in Heidelberg. Als Haindorf eine Anstellung als Universitätsprofessor, nicht nur aus sachlichen, sondern religiösen Gründen – es sei „noch kein einziges Beispiel vorhanden, daß auf irgendeiner Universität Deutschlands ein Jude als öffentlicher Lehrer angestellt war“ (Votum von Professor Moser vom 29.07.1812) –, verweigert wurde, verließ er 1812 die Universität und ging bis 1814 auf eine Studienreise nach Frankreich.

 

1815 heiratete Alexander Haindorf seine Verlobte. Ein Jahr später wurde Tochter Sophie geboren; seine Frau starb einen Monat nach ihrer Geburt.

Seit 1816 hatte Alexander Haindorf in Münster auch eine ärztliche Praxis eröffnet. Zu seinen Patienten zählte er viele Adelsgeschlechter der näheren Umgebung.

 

1925 gründete er dann den „Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden und zur Begründung einer Schulanstalt, worin arme und verwaiste Kinder unterrichtet und künftige jüdische Schullehrer gebildet werden sollen“.

Haindorf war der erste, der diesen Titel als ungetaufter jüdischer Professor in Preußen führte.

Alexander Haindorf starb, geachtet und geehrt, am 16. Oktober 1862.

Spätestens 1831 muss er zum Titularprofessor ernannt worden sein. In einem amtlichen Schreiben, das ihm die ärztlichen Geschäfte im Münsterschen Zuchthaus überträgt, spricht ihn die Münstersche Regierung als Professor an. Haindorf war der erste, der diesen Titel als ungetaufter jüdischer Professor in Preußen führte.

 

Als Mediziner, Privatdozent und Pädagoge genoss er eine exponierte Stellung und zählte zu den auch von der christlichen Mehrheitsgesellschaft akzeptierten Juden. Er war Gründungsmitglied des „Westfälischen Kunstvereins“ (1831) und gehörte dem „Verein der Kunstfreunde im Preußischen Staat“ und dem „Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen“ an, obwohl Juden allgemein von nicht jüdischen Vereinen etc. ausgeschlossen waren. Von 1816 bis zu seinem Tode stellte er eine exquisite Sammlung von etwa 400 altdeutschen und holländischen Kunstwerken zusammen. Die Sammlung wurde zu einem wichtigen Grundstock des Landesmuseums Münster. Haindorf förderte auch zahlreiche junge Künstler.

1859, also im Alter von 75 Jahren, gab Haindorf seine Praxis auf, nicht aber die Leitung der Schule.

 

Sein Grab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof in Münster. Hier ist auch seine Ehefrau Sophie bestattet, die bereits am 6. September 1816, einen Monat nach der Geburt ihre Tochter Sophie, im Alter von 26 Jahren gestorben war.

Im Hintergrund eine bemooste Grabsteinplatte, davor ein großes rechteckiges hellgraues Steinkenotaph mit dunkelgrauer Platte darauf. Umrandet von bemoosten Steinen.

Das Grab von Sophie und Alexander Haindorf auf dem jüdischen Friedhof an der Einsteinstr. in Münster 

2011 wurde der
Universitäts- und Landesbibliothek in
Münster die Bibliothek Alexander Haindorfs und die Sammlung Loeb Böhme von Helga Böhme geschenkt.

Literaturempfehlungen

Susanne Freund: Alexander Haindorf. Reformer – Pädagoge – Mediziner – Kunstsammler (Jüdische Miniaturen 263), Leipzig 2021.
Susanne Freund: Alexander Haindorf. Grenzgänge zwischen jüdischer und christlicher Kultur. In: Folker Siegert (Hrsg.): Grenzgänge. Menschen und Schicksale zwischen jüdischer, christlicher und deutscher Identität. Festschrift für Diethard Aschoff (Münsteraner Judaistische Studien 11), Münster 2002, 174–194.
Gisela Möllenhoff: Alexander Haindorf. In: Hans Galen (Hrsg.): Jüdische Porträts. Graphische Bildnisse prominenter Juden Mitteleuropas, Hamm 1994, 58–60.
Hans-Joachim Schoeps: Alexander Haindorf (1784–1862). In Robert Stupperich (Hrsg.): Westfälische Lebensbilder Bd. 11, Münster 1975, 97–111.

Idee u. Text: Dipl.-Theol. Ludger Hiepel M.A.
Fotos u. Quellen: Bild 1: Wikipedia/gemeinfrei – Link; Bild 2: Dietmar Rabich/Wikimedia Commons – Link; Bild 3: Wikipedia/gemeinfrei – Link; Bild 4: gemeinfrei Link; Bild 5: Archiv der Jüdischen Gemeinde Münster; Bild 6: LWL-Museum für Kunst und Kultur, Westfälisches Landesmuseum, Münster; Bild 7: Digitalisat der ULB Münster Link; Bild 8: Dipl.-Theol. Ludger Hiepel M.A.